Das Erwerbsleben ist oftmals recht hart und verlangt uns verdammt viel ab. Sich zu behaupten und auch nach einem Niederschlag wieder aufzustehen ist alles andere als einfach. Gerade deswegen ist es so wichtig zu verinnerlichen, kein Opfer zu sein.
Im Januar machte eine langatmige Abrechnung einer Amerikanerin auf LinkedIn die Runde. Eine andere Frau hatte von der Farce vieler erfolgloser Bewerbungsverfahren 2024 berichtet, die damit zusammenhängende Enttäuschung und Zermürbung. Und immer wieder gute Miene zu diesem bitterbösen Spiel zu machen, wenn man mal wieder zurückgewiesen wurde. Zum Aufreger wurde der Post aufgrund eines Kommentars: Hör auf, ein Opfer zu sein!
Wenig überraschend war der Online-Pranger rasend schnell errichtet. Die Berufsempörten, so schien es, hatten endlich mal wieder etwas gefunden, um ihren Emotionen freien Lauf zu lassen und sich in der Verdammung dieses augenscheinlich unsäglichen Kommentators gegenseitig zu überbieten. Das machte mich stutzig: Denn wann war es jemals hilfreich, sich in eine Opferrolle zu begeben? Oder anders gefragt: Ist es erstrebenswert, sich selbst als ein Opfer zu sehen?
Warum es wichtig ist, sich zügig aus einer Opferrolle zu befreien
Natürlich möchte niemand einen solchen Kommentar unter einem sehr persönlichen Post lesen. Und sicherlich wären Mitgefühl und Zuspruch im ersten Moment viel besser geeignet gewesen, um einen getroffenen Menschen aufzubauen. Das eben nicht getan zu haben, mag unsensibel und kritisierbar sein, nimmt der eigentlichen Botschaft aber keinerlei Relevanz: Sei kein Opfer ist und bleibt ungemein wichtig. Es ist sogar eine Empfehlung, die ich jedem Menschen ungesehen mit auf den Weg gebe würde.
Ein Opfer zu sein bedeutet, anderen Kräften und Mächten nach Belieben ausgesetzt zu sein. Zumindest zeitweise ist kein Entrinnen möglich. Insofern kann ein Mensch tatsächlich ein Opfer werden, sei es von Naturgewalten oder (einem) anderen Menschen. Und es gibt gerade im Kontext von Straftaten und Verbrechen durchaus genügend hässliche Momente, wo es genau dazu kommt. Nur bleibt auch dort die Frage, wie lange eine Person in ihrer Opferrolle verharrt oder wie schnell sie sich aus ihr zu befreien weiß. Je schneller sie da rauskommt, desto besser – davon bin ich tief überzeugt (auch wenn der Opferstatus für manche Menschen und Organisationen ein lukratives Geschäftsmodell sein mag).
Wenn die Resilienz nicht ausreicht, um Belastungen standzuhalten
Insofern ist Resilienz mehr als nur ein Modewort, sondern eine Urkraft, die uns durch schwierige Phasen trägt. Resilient zu sein bedeutet, Belastungen auszuhalten und wenn immer es erforderlich wird, sich ändernden Bedingungen und Anforderungen anzupassen. Im Karrierecoaching bin ich einigen Menschen begegnet, die Unterstützung brauchten, weil ihre Resilienz situativ nicht ausreichend war. Aber damit wollte sich niemand von ihnen abfinden – niemand wollte ein Opfer sein.
Die Ursachen sind genauso vielschichtig wie die Persönlichkeiten, die es treffen kann. Selbst erfahrene Fach- und Führungskräfte sind davon nicht ausgenommen. Aber gerade für junge Erwerbstätige und Absolventen kann es überaus verstörend sein, wenn sie plötzlich nicht mehr weiterkommen. Bis zum Ende des Studiums das Konzept meist auf: Solange ich mich anstrenge, erreiche ich meine Ziele. Bewerbungsprozesse setzen meist einen Schlussstrich unter diese Gewissheit. Erstmals im Leben reicht es nicht mehr, sich „nur“ anzustrengen. Plötzlich erkennen junge Menschen, dass sie abhängig von anderen sind – was für viele wiederum eine ganz neue Erfahrung ist. Wenn dann auch noch hochgesteckte berufliche Ambitionen zerplatzen wie Seifenblasen, kann es schnell zu einer persönlichen Krise kommen.
Opfer eigener unrealistischer Erwartungen und nicht böswilliger Arbeitgeber
Viele Absolventen, die ihren Traumjob nicht erreichen, werden dann Opfer ihrer eigenen unrealistischen Erwartungen und Vorstellungen. Und eben nicht Opfer seelenloser Recruiter und eiskalter Arbeitgeber – die können nur selten etwas dafür. Manchmal sind Bewerber mit Blick auf ihre beruflichen Ziele einfach nicht ausreichend konkurrenzfähig, selbst wenn sich das unfair anfühlt. Dass das Leben nicht fair ist, kann für manchen Erwerbstätigen ein böses Erwachen sein. Meist verlangt diese Erkenntnis dann eine Kurskorrektur. Ich selbst empfehle stets, sich berufliche Ziele nach der bewährten SMART-Formel (spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, terminiert) zu setzen, wobei der Fokus auf den beiden letzten Buchstaben liegt.
Gerade diejenigen, die sich überaus ambitionierte Ziele setzen, können im Voraus nicht wissen, ob diese rundheraus unrealistisch sind. Doch Versuch macht bekanntlich klug, und daher empfehle ich, sich möglichst intensiv mit erstklassigen Unterlagen zu bewerben. Aber eben nicht ohne einen leichter zu realisierenden Plan B, der nach einer gewissen Zeit ins Auge gefasst werden muss. Wer also seinen Traumjob bis Tag X (meist drei bis sechs Monate in der Zukunft liegend) nicht erreicht, sollte also ausweichen.
Begegnen Sie Arbeitgebern immer auf Augenhöhe
Wer dagegen mit dem Kopf durch die Wand will, es immer wieder aufs Neue probiert und dabei scheitert, wird ein Opfer seiner Sturheit. Und ich muss es ganz klar sagen: Wer sich über einen langen Zeitraum erfolglos bewirbt, macht irgendetwas falsch und muss darauf reagieren. Wer nichts ändert und sich beklagt, kann maximal Mitleid erwarten wie Menschen, die in einem Bahnhof auf ein Schiff warten. Aber bisher hat Mitleid noch niemandem zu einem attraktiven Job geführt, von seltenen Ausnahmen einmal abgesehen.
Für ein gesundes Rollenverständnis hilft es außerdem, wenn sich Bewerber stets auf Augenhöhe zur Arbeitgeberseite sehen und sich eben nicht alles gefallen lassen. Ich suche mir meinen Vorgesetzten selbst aus – genauso wie eine Teamleitung sich seinen neuen Mitarbeiter aussucht. Ich prüfe mit dem gleichen Recht und entscheide unabhängig von der Gegenseite, ob ich die Bewerbung des Teamleiters annehme, mein Vorgesetzter zu werden. Das ist nicht nur eine gesunde, emanzipierte Haltung, sondern auch der beste Schutz vor Nervosität.
Auch Mobbing-Opfer müssen sich aus dieser Rolle befreien
Wer dagegen hofft oder hoffen muss, als geeigneter Bewerber ausgewählt zu werden, macht sich zum Spielball von Personen, deren Verhalten kaum zu beeinflussen ist. Wer anderen gefallen will und Ablehnung erfährt, muss schon ein ziemlich dickes Fell haben. Und hilfreich ist diese Haltung sowieso nicht: Denn ein selbstbewusstes Bewerberverhalten wirkt auf viele Arbeitgeber deutlich attraktiver als eine devote Grundhaltung. Ich kenne jedenfalls kaum Arbeitgeber, die gerne ein Opfer einstellen.
Trotzdem können Menschen auch am Arbeitsplatz Opfer werden – von Konflikten und Mobbing. Ich komme an dieser Stelle gleich zum Punkt: Wer zeigt, kein leichtes Opfer abzugeben, wird am seltensten Ziel von Mobbing. Und wer angegriffen wird, sollte sich wehren, um eben kein Opfer zu sein. Sondern eine handlungsfähige Person mit größtmöglicher Selbstwirksamkeit. Diese zu entfalten, ist oft alles andere als leicht. Trotzdem sehe ich keine sinnvolle Alternative – die dauerhafte Opferrolle kann und darf es jedenfalls nicht sein.
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