Bei beruflicher Orientierungslosigkeit und Unsicherheit in der Jobsuche wird oft unterschätzt, wie nützlich Vorstellungsgespräche sind. Daher ist es dringend geboten, diese letzte Bewerbungsphase neu zu interpretieren.
Berufliche Orientierungslosigkeit hemmt Bewerbungsaktivitäten genauso wie schlechte Erfahrungen, die Erwerbstätige in ihrem letzten Job gesammelt haben. Und tatsächlich spricht zunächst nicht viel dafür, sich zu bewerben, wenn noch nicht vollständig klar ist, wo es hingehen soll. Doch je früher Jobsuchende ihren Hut wieder in den Ring werfen, desto eher können sie Klarheit für sich finden.
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ lässt Goethe bereits seinen Mephisto in Faust I sagen. Als durch die Politikwissenschaft geprägte Persönlichkeit sind mir Theorien zwar per se nicht zuwider. Allerdings sind sie wenig hilfreich, wenn die Praxistauglichkeit in Gänze fehlt. Im beruflichen Orientierungscoaching verhält es sich ähnlich: Wir können individuelle Stärken, Werte und Neigungen identifizieren und auf dieser Grundlage Vorstellungen unserer beruflichen Zukunft entwickeln. Nur welchen Wert das hat werden wir erst erkennen, wenn wir unseren schönen Plan mit der Realität des Arbeitsmarkts abgleichen. Womit Berufsbilder und konkrete Tätigkeiten gemeint sind.
Lassen Sie sich von Stellenanzeigen nicht abschrecken!
Daher empfehle ich bei Unsicherheit ob der beruflichen Zukunft, sich möglichst schnell mit dem tatsächlichen Stellenangebot zu beschäftigen. Dabei kann das Blickfeld erweitert werden, indem die Suche nach Kompetenzen – was allerdings nur mit den sogenannten Hard Skills funktioniert – und nicht nach Berufsbezeichnungen erfolgt. Bei Generalisten besteht der Schlüssel zum Erfolg darin, passende Begriffe und weitere Filter zu definieren. Das kann mitunter recht mühsam sein, ist aber ein unverzichtbarer Baustein auf dem Weg zum richtigen Job.
Denn der soll es schließlich sein! Nur leider ist diese Haltung wenig hilfreich. Denn allzu oft lassen sich Jobsucher davon hemmen, dass Stellenanzeigen nicht garantieren, dass dies wirklich der richtige Job ist. Da Vakanzen stets auch Imageanzeigen von Arbeitgebern sind (nicht selten wird ein Personalbedarf sogar nur suggeriert) und die Wirklichkeit darüber hinaus in einem kurzen Anzeigentext kaum abbildbar ist, bleibt diese Erwartung vermessen. Eine Bewerbung sollte deswegen stets auf der Grundlage erfolgen Es könnte passen und nicht auf Es passt oder Das ist mein Traumjob.
Warum ein Bewerbungsprozess stets ergebnissoffen sein muss
Denn ob es wirklich passt, wüssten wir frühestens, wenn wir die Position mindestens drei Monate innehätten. Sich für das Angebot eines Arbeitgebers zu entscheiden, ist also immer eine Entscheidung unter Unsicherheit. Und ganz am Anfang eines Bewerbungsprozess liegen die wenigsten Informationen vor. Das bedeutet, dass wir uns stets unter vagen Annahmen bewerben (müssen), wenn uns der Arbeitgeber unbekannt ist. Wer diese Unsicherheit nicht akzeptiert, wird sich nie bewerben können.
Angelehnt an das vierte Prinzip von Working out loud besteht der gesamte Bewerbungsprozess aus zielgerichtetem Erkunden. Denn aus der Annahme Es könnte passen folgt die Konsequenz, dies nun genauer herauszufinden zu wollen. Hilfreich ist es in erster Linie, Personen zu fragen, die in der Branche oder bei diesem Arbeitgeber tätig sind. Oder eine Einschätzung von einem erfahrenen Karrierecoach zu erhalten. Zumindest Online-Recherchen inklusive Social Media sollten es schon sein.
Doch das sind nur die allerersten Erkundungsschritte: „Grau is alle Theorie – entscheidend is auf‘m Platz!” Goethe weitergedacht hat der Fußballer Alfred „Adi“ Preißler, einem der wichtigsten Spieler der 50er Jahre von Borussia Dortmund und bis heute unvergessene Vereinslegende. Und dieser Platz ist für Bewerber das Vorstellungsgespräch. Ein gut bespielbarer Platz ist übrigens ein Vorstellungsgespräch in Präsenz, während in Remote-Vorstellungsgesprächen oft nicht das Gefühl entsteht, die Gegenseite angemessen kennengelernt zu haben.
Ein Vorstellungsgespräch ist eine beidseitige Prüfung auf Augenhöhe
Noch wichtiger als das Format und eine intensive Vorbereitung darauf ist für Bewerber die richtige Haltung. Ganz schlecht ist die Einstellung: Ich stelle mich vor und hoffe, dass ich mit einer guten Performanz den Arbeitgeber dazu bringe, mir die Stelle anzubieten. Das folgt der irrigen Annahme, dass die Arbeitgebervertreter Autoritätspersonen seien, denen ein Bewerber zu gefallen habe, weil diese schließlich am längeren Hebel säßen.
Doch selbst in Branchen, die nicht vom Arbeitskräftemangel betroffen sind, ist diese Haltung gefährlich. Denn nur gute Bewerber können sich diese Haltung leisten – wer sie nicht hat, könnte schnell einen verzweifelten Eindruck hinterlassen. Außerdem ignoriert sie, dass auch ein Arbeitnehmer für sich entscheiden muss, ob er für diesen Arbeitgeber tätig werden möchte oder nicht. Und deswegen kommt es darauf an, selbst-bewusst in ein Vorstellungsgespräch zu gehen, das konzeptionell plötzlich ganz anders erscheint:
- Beide Seiten stellen sich einander vor und machen legitimer Weise Werbung für sich.
- Im besten Fall prüfen beide Seite gemeinsam, ob eine Zusammenarbeit in dieser Konstellation gewinnbringend ist.
- Dies geschieht durch eine Prüfung, in dem sich beide Seiten Fragen stellen und ihre Vorstellungen kommunizieren.
- Falls dies nicht im Diskurs erfolgt, müssen beide Parteien – Arbeitgeber und Arbeitnehmer – diese Frage für sich allein und unabhängig voneinander beantworten.
- Ein solches Gespräch findet zwangsläufig immer auf Augenhöhe statt.
Ich entscheide, wer mein Vorgesetzter wird
Insofern ist es ungemein wichtig zu verinnerlichen: Ich gehe nicht in ein Vorstellungsgespräch, weil ich den Job haben möchte. Sondern: Ich gehe in ein Vorstellungsgespräch, um herauszufinden, ob ich für diesen Arbeitgeber tätig sein möchte. Oder mit anderen Worten: Erst der Austausch von Vorstellungen zeigt, ob es überhaupt eine gute Idee war, sich schriftlich bewerben zu haben. Denn das können wir vorher noch gar nicht wissen!
Das setzt natürlich voraus, dass Arbeitnehmern klar ist, wonach sie grundsätzlich suchen. Dass sie wissen, worauf sie im Vorstellungsgespräch achten werden. Dass sie am besten über vorab definierte Kriterien (mindestens: Was will ich auf keinen Fall?) verfügen, die sie nun prüfen – denn genauso verfahren auch die Vertreter der Arbeitgeberseite. Damit Arbeitnehmer am Ende ergebnisoffen entscheiden können: Nehme ich die Bewerbung der Person, die mir gegenübersitzt, an, mein nächster Vorgesetzter zu werden?
In sieben Schritten aus der Orientierungslosigkeit zum neuen Job
Ich möchte noch einmal explizit auf den Prozess zu sprechen kommen, der aus Unsicherheit und Orientierungslosigkeit herausführt. Er besteht wesentlich aus folgenden Schritten:
- Je besser mir meine Stärken, Werte und Neigungen bewusst sind, desto genauer kann ich daraus eigene Vorstellungen entwickeln.
- Je genauer meine Vorstellungen, desto besser kann ich den für mich relevanten Arbeitsmarkt eingrenzen.
- Je besser ich den für mich wichtigen Teil des Arbeitsmarktes kenne, desto zielgerichteter kann ich meine Such- und Bewerbungsstrategie (inklusive Zwischenschritte wie eine Weiterbildung) anlegen.
- Je zielgerichteter meine Strategie, desto mehr Stellen werde ich finden, die meinen Vorstellungen (teilweise) entsprechen.
- Je mehr potentiell passende Stellen ich finde, desto häufiger kann ich mich bewerben.
- Je intensiver ich mich mit passgenauen Unterlagen bewerbe, desto häufiger werde ich zu Vorstellungsgesprächen eingeladen.
- Je häufiger ich in Vorstellungsgesprächen bin, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, einen Job zu finden, der zu meinen Vorstellungen passt.
Es gilt daher umgekehrt: Je später ich Stellen recherchiere und Bewerbungen schreibe, desto länger hält die Unsicherheit an.
Dieser Prozess verlangt außerdem Reflexion und mitunter Korrekturen, wobei ein begleitendes Coaching sehr hilfreich sein kann. Denn die Informationen, die Bewerber sammeln, können dazu führen, Ziele revidieren und neu formulieren zu müssen. Die gesammelten Informationen tragen also dazu bei, zu arbeitsmarktnahen Vorstellungen zu finden, da sie permanent einem Realitätsscheck unterzogen werden.
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